Leipziger Polizistin vor Gericht: 265 gestohlene Räder illegal verkauft?

Mindestens 265 ehemals gestohlene Fahrräder soll eine Polizeibeamtin illegal verkauft haben. Am Dienstag hat am Landgericht Leipzig der „Fahrradgate“-Prozess gegen die Leiterin einer Asservatenkammer der Polizei begonnen.

Sie ist die zentrale Figur in einer Affäre, die den gesamten Freistaat erschütterte. Anke S. (47) soll als Leiterin der Asservatenkammer der Zentralen Bearbeitung Fahrradkriminalität (ZentraB) in der Polizeidirektion Leipzig über Jahre hinweg illegal Fahrräder verkauft haben, die nach Diebstählen eingelagert waren. Am Dienstagmorgen hat die suspendierte Beamtin, deren Gesicht bis dahin niemand kannte, unter dem Blitzlichtgewitter der Pressefotografen den Saal 115 des Landgerichts Leipzig betreten.

Die Generalstaatsanwaltschaft wirft ihr Bestechlichkeit, Diebstahl, Verwahrungsbruch und Urkundenfälschung vor. Allein das Verlesen der Anklageschrift dauert mehrere Stunden. Demnach soll Anke S. im Zeitraum vom 18. August 2014 bis zum 26. November 2018 in 155 Fällen mindestens 265 in amtlicher Verwahrung befindliche Fahrräder selbst genutzt oder an Dritte – überwiegend Kollegen der Polizei – weitergegeben haben, heißt es in der Anklage.

Mit Gefälligkeiten Ansehen bei Freunden und Kollegen steigern

Um die Taten zu verschleiern, habe sie die Verkäufe wahrheitswidrig als Überlassung an gemeinnützige Vereine dokumentiert. So soll Anke S. in mindestens 94 Fällen gegenüber den Abnehmern der Fahrräder eine als Spende deklarierte Zahlung von zumeist 50 Euro gefordert und entsprechende Spendenquittungen ausgestellt haben. Die Anklagebehörde geht davon aus, dass die Asservatenverantwortliche im Laufe von vier Jahren mindestens 4795 Euro eingenommen hat.

Der Angeklagten sei die Unrechtmäßigkeit ihres Handelns bewusst gewesen, sagt Staatsanwalt Christian Kuka. „Es ging ihr darum, durch Gefälligkeiten ihr Ansehen im Freundeskreis und auf der Dienststelle zu steigern.“ Zudem habe sie eine Verschrottung der Räder vermeiden wollen. Mithin habe sie einen geringen Teil der Fahrräder auch verschenkt.

Seit Januar 2013 sei Anke S. Angehörige der ZentraB gewesen. Von Beginn an habe die inzwischen wieder aufgelöste Ermittlungsgruppe zur Bearbeitung der massiven Fahrradkriminalität in der Stadt Leipzig eine Vielzahl organisatorischer und juristischer Probleme gehabt, schildert Kuka. So sei die Verfahrensweise im Umgang mit Asservaten nicht klar geregelt gewesen.

Auch die Räumlichkeiten zur Aufbewahrung der sichergestellten Räder in der Hans-Driesch-Straße und der Lützner Straße hätten bald nicht mehr ausgereicht, zumal weder die einstigen Besitzer noch die Versicherungen Interesse an den geklauten Rädern gezeigt hätten. Nur in einem Fall wollte eine Frau ihr sichergestelltes Rad zurück, doch es war bereits verkauft. Ein Schadenersatz wurde der Staatsanwaltschaft zufolge aus dem Erlös der illegalen Deals bestritten.

Staatsanwalt: Alles hat mit einem Kinderfahrrad angefangen

Noch bevor Anke S. die Leitung der Asservatenstelle bei der ZentraB übernahm, soll sie aus dem Bestand ein Kinderfahrrad für ihre Tochter entnommen haben. Später habe sie etliche Räder an Kollegen, Freunde und Bekannte veräußert.

Viele der begünstigten Beamten hätten den illegalen Umgang mit Asservaten nicht kritisch hinterfragt. Vielleicht auch deshalb, weil es sich bei den verkauften Rädern überwiegend um hochwertige Produkte von Markenherstellern in sehr gutem Zustand sowie um teure E-Bikes handelte.

Auf polizeilichen Übergabeprotokollen tauchte laut Anklage sogar der Stempel eines gemeinnützigen Gartenvereins aus dem Landkreis Leipzig auf. In jener Sparte führte der Vater der Angeklagten den Vorsitz. Doch erst später, als Anke S. Überprüfungen befürchtete, kam es der Staatsanwaltschaft zufolge tatsächlich zur Geldübergabe an den Verein. Mit der Zahlung einer „Spende der Polizei“ in Höhe von mehr als 1000 Euro habe Anke S. ihre Fahrraddeals nachträglich legitimieren wollen. Mindestens 3200 Euro aus den Verkäufen soll die Polizeihauptmeisterin für sich behalten haben.

Ob sich seine Mandantin zu den Anklagevorwürfen äußern wird, lässt Verteidiger Thomas Morguet auf Anfrage offen. Dies sei abhängig vom Verlauf des Rechtsgesprächs, welches die 8. Strafkammer für den Nachmittag angekündigt hat.

Ermittlungen im Verfahrenskomplex vollständig abgeschlossen

Vier Jahre nach Bekanntwerden der Affäre sind die Ermittlungen der Generalstaatsanwaltschaft Dresden im Komplex „Fahrradgate“ vollständig abgeschlossen, teilt die Behörde auf LVZ-Anfrage mit. Neben Anke S., für deren Prozess die 8. Strafkammer zehn Verhandlungstage bis 11. Juni vorsieht, ist noch ein ZentraB-Kollege im Hauptverfahren angeklagt.

Dem Beamten wird unter anderem Diebstahl, Bestechlichkeit und Verwahrungsbruch in einer geringeren Anzahl von Fällen zur Last gelegt. Ein Prozesstermin am Amtsgericht steht noch nicht fest. Ursprünglich wurde in diesem Hauptverfahren gegen fünf Beschuldigte, darunter einen weiteren ZentraB-Mitarbeiter sowie Verantwortliche des Gartenvereins, ermittelt. Gegen drei von ihnen wurde das Verfahren eingestellt – kein hinreichender Tatverdacht.

Im Vorgesetztenverfahren wurde gegen sieben Polizisten wegen Strafvereitelung im Amt ermittelt. In zwei Fällen wurden die Verfahren zum Hauptkomplex hinzuverbunden. Bei den übrigen Beschuldigten ergab sich kein Tatverdacht.

Insgesamt 189 Personen standen im Erwerberverfahren im Fokus. Bei 96 Beschuldigten, darunter 52 Polizeibeamten und einem -bediensteten, wurde das Verfahren mangels Tatverdacht eingestellt. In weiteren Fällen gab es ein Ende der Ermittlungen aus verschiedenen Gründen. Etwa gegen 82 Beschuldigte – darunter 48 Polizeibeamte und neun -bedienstete sowie einen Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft Leipzig, der kein Staatsanwalt ist – gegen Zahlung einer Geldauflage. Anträge auf Strafbefehle gab es in sieben Fällen, zwei sind bereits rechtskräftig.


Alexander Bischoff Mopo 19.03.2024

„Fahrradgate“-Prozess: Wie ein grün-weißes Kinderrad einen der größten Polizei-Skandale einleitete

Er gilt als einer der größten Korruptionsskandale der sächsischen Polizei: Jahrelang sollen sich Polizisten, deren Freunde und Verwandte sowie Justizangehörige aus der Asservatenkammer der Leipziger Direktion an sichergestellten Fahrrädern bedient haben. Knapp fünf Jahre nachdem der illegale Handel aufgeflogen war, begann am Dienstag der Prozess gegen die mutmaßliche Organisatorin. Und das mit Überraschungen.

Sie ist eine eher unscheinbare Person: Klein, etwas mollig, die Haare dunkelrot gefärbt, sitzt Anke S. (47) im mausgrauen Kapuzenpullover auf der Anklagebank. Meist mit verschränkten Armen verfolgt sie den rund viereinhalbstündigen (!) Anklagevortrag der Generalstaatsanwaltschaft.

Die beiden Staatsanwälte beschreiben jedes einzelne der 265 Fahrräder, welche die heute suspendierte Polizeihauptmeisterin zwischen August 2014 und November 2018 aus der Asservatenkammer der „Zentrale Bearbeitung Fahrradkriminalität“ (ZentraB) geholt und an Freunde, Kollegen und deren Familien verkauft oder verschenkt haben soll.

Auch ein Zweiradhändler soll ordentlich vom illegalen Handel profitiert haben.

Mal 20, mal 30, in der Regel aber 50 Euro nahm die Beamtin laut Anklage pro Drahtesel entgegen. Insgesamt soll sie 4795 Euro vereinnahmt haben. Manchmal wurde auch getauscht. Ein Eisenwarenhändler soll der Rad-Dealerin in Uniform als Gegenwert einen Gartenpavillon samt Heizstrahler überlassen haben.

Ein Freundschafts-Stempel im Dauereinsatz

Angefangen hatte alles am 1. April 2014 – als sich die ZentraB-Beamtin für ihre Tochter ein grün-weißes Kinderfahrrad aus der Asservatenkammer mopste. Mit einem selbst besorgten Stempel des Pegauer Gartenvereins „Freundschaft“ deklarierte sie das Ganze als Spende.

Denn die zumeist nach Diebstählen sichergestellten Fahrräder, die entweder herrenlos oder von Versicherungen abgeschrieben waren, durften nur an gemeinnützige Vereine gespendet werden.

Beim „Freundschaft e.V.“ handelte es sich um eine aus gerade mal zehn Parzellen bestehende Mini-Gartensparte in Pegau, dem Heimatort der Angeklagten. Vorsitzender war der Vater von Anke S. Und der Freundschafts-Stempel war fortan im Dauereinsatz.

Denn schnell sprach sich Ankes „Fahrradstadel“ innerhalb der sächsischen Polizei herum – Kunden kamen sogar aus dem Landeskriminalamt.

Unglaublich: Laut Anklage sollen sich auch Diebstahls-Ermittler sichergestellte Fahrräder aus ihren eigenen Verfahren bei Anke S. reserviert haben.

Anklage: Polizistin wollte ihr Ansehen unter Kollegen steigern

Und noch eine weitere Überraschung hält die Anklage bereit: Den Ermittlungen zufolge war es wohl nicht nur finanzielles Interesse, das die Asservatenverantwortliche der ZentraB zu dem irren Handel trieb. Anke S. habe mit den Gefälligkeiten nach Ansehen und Wertschätzung innerhalb der Polizei gestrebt, führten die Staatsanwälte aus.

Und ganz pragmatisch wollte sie wohl auch Platz in ihren ständig überfüllten Lagerhallen schaffen.

Die Beschuldigte selbst verfolgt den Prozessauftakt schweigend. Bis zum nächsten Verhandlungstag wolle sie sich mit ihrem Verteidiger beraten, ob und wie sie sich zu den Vorwürfen einlassen möchte, gibt der Vorsitzende Richter Rüdiger Harr nach einem Rechtsgespräch zu Protokoll.

Zuvor hatte die Kammer den Beteiligten ihre Vorstellungen unterbreitet, wie das bis Mitte Juni terminierte Verfahren abgekürzt werden könne. Und dabei auch Zweifel am angeklagten Diebstahlsvorwurf geäußert, da in einer internen Dienstanweisung der Polizei die Fahrräder als „herrenlos“ bezeichnet wurden.

Dies hätte bei der Angeklagten einen Irrtum hervorrufen können, so eine Überlegung des Vorsitzenden Richters. Für die Kammer steht demnach mehr der Untreue-Tatbestand im Fokus, da Anke S. das vereinnahmte Geld aus den Verkäufen nicht abgeführt habe.

Harr regte an, das Verfahren auf die Fälle zu beschränken, in denen nachweislich Geld geflossen ist. Das Gericht kann sich demnach bei einem glaubwürdigen Geständnis eine Bewährungsstrafe vorstellen.


MDR 19.03.2024

Landgericht Leipzig „Fahrradgate“-Prozess: Verlesen der Anklageschrift dauert fast fünf Stunden

Eine Polizistin steht vor dem Landgericht in Leipzig. Die Staatsanwaltschaft wirft ihr unter anderem Bestechlichkeit vor. Die frühere Asservatenverantwortliche soll beschlagnahmte Fahrräder gegen eine „Spende“ verkauft haben.

Der Prozess zum sogenannten „Fahrradgate“ bei der Polizeidirektion Leipzig hat begonnen. Einem Sprecher des Landgerichts Leipzig zufolge ist eine Polizeihauptmeisterin angeklagt, die bis März 2018 Asservatenverantwortliche in der „Zentralen Bearbeitung Fahrradkriminalität 2“ war. Die Staatsanwaltschaft wirft der suspendierten Beamtin Bestechlichkeit sowie Diebstahl und Urkundenfälschung vor.

Aufgrund der Vielzahl der Fälle dauerte das Verlesen der Anklage fast fünf Stunden. Zeugen wurden am ersten Prozesstag nicht vernommen. Auch die Angeklagte äußerte sich nicht zu den Vorfällen. Der Vorsitzende Richter stellte der Polizistin eine Bewährungsstrafe in Aussicht, wenn sie sich geständig zeigt. Zudem gehe die Kammer derzeit davon aus, dass der Vorwurf des Diebstahls nicht zutreffen könnte, weil auch in Dienstanweisungen von „herrenlosen Fahrrädern“ die Rede war.

Es sei jedoch eine Verurteilung wegen Untreue möglich, weil die Angeklagte das von ihr eingenommene Geld, mindestens 3.000 Euro, nicht abführte, sondern für sich behielt.

Fast 190 Verfahren wurden eingestellt

In dem Fall geht es um beschlagnahmte Fahrräder aus Diebstählen. Diese sollen illegal verkauft worden sein. Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden hat seit 2019 gegen 189 Leipziger Polizisten, Justizangestellte und Privatpersonen ermittelt. Die meisten Verfahren wurden aufgrund fehlender Beweise oder gegen Zahlung einer Geldauflage eingestellt.

Fahrräder gegen 50 Euro „Spende“ abgegeben

Die verbliebene Angeklagte soll laut Staatsanwaltschaft innerhalb von vier Jahren mindestens 265 Fahrräder abgegeben oder selbst genutzt haben. Die Abnehmer, zumeist Polizisten, machten demnach ein Schnäppchen gegen eine „Spende“ von 50 Euro. Offiziell quittierten die Empfänger eine Schenkung an gemeinnützige Vereine, so ein interner Prüfbericht.
Das Leipziger Landgericht hat für das Verfahren insgesamt zehn Termine bis zum 11. Juni 2024 angesetzt.